Frankreich 2016

Die Schicksale der Schweiz und Albaniens – verbunden durch die Euro

Mit sechs Spielern albanischer Herkunft in der schweizerischen und sieben mit doppelter Staatszugehörigkeit in der albanischen Nationalmannschaft werden sich die beiden Teams am 11. Juni in Lens gegenüberstehen, und gleichzeitig sind sie zu stark miteinander verbunden, als dass sie sich als Gegner sehen könnten. Die Tageszeitung Le Temps wird an der Euro 2016 über beide Mannschaften mit gleichem Interesse parallel berichten.

Nach dem Eröffnungsspiel wird die Schweizer Mannschaft am Samstag, den 11. Juni, in Lens die Euro 2016 mit dem Spiel gegen Albanien (15:00) beginnen. Das Spiel der Gruppe A  wurde vom Schweizer Trainer, Vladimir Petkovic, als ein „Derby“ angekündigt, während es von einigen Witzereissern als ein Spiel zwischen „Albanien A und Albanien B“ bezeichnet wurde. „Albanien hat zwei Mannschaften an der Euro“, schrieb der Blick, und bezog sich dabei auf den hohen Anteil Spieler albanischer Herkunft in der Schweizer Mannschaft. In Frankreich werden es deren sechs sein: der stellvertretende Captain Valon Behrami, die Mittelfeldspieler Xherdan Shaqiri, Granit Xhaka und Blerim Xhemajli, so wie die Stürmer Admir Mehmedi und Shani Tarashaj.

Sechs von dreiundzwanzig ist einer weniger als die Zahl der Schweizer … in der Auswahl der albanischen Mannschaft. Es sind sieben in der gegnerischen Mannschaft, die zwei Pässe hochhalten können. Die neue Auswahl, die zum ersten Mal an den Finals einer grossen internationalen Fussballmeisterschaft teilnimmt, rekrutiert sich hauptsächlich aus der Diaspora. Es sind die Kinder von Emigranten oder Flüchtlingen, die in Deutschland und vor allem in der Schweiz aufwuchsen und ihre Ausbildung machten.

Auf der Liste, die der italienische Trainer Gianni De Biasi veröffentlichte, haben wir zehn Spieler, die in der Schweiz aufwuchsen, wie den Captain Lorik Cana (ausgebildet in Lausanne), Ermir Lenjani (Winterthur), Burim Kukeli (Solothurn). Unter diesen zehn Spielern haben sieben eine doppelte Staatsangehörigkeit: Naser Aliji (stammt aus Baden), Taulant Xhaka (Basel), Shkëlzen Gashi (Zürich). Und folgende vier kamen auch in der Schweiz zur Welt: Arlind Ajeti in Basel, Freddie Veseli in Renens, in Lausanne Migjen Basha und Amir Abrashi in Bischofszell. Und zu guter Letzt hätten die zwei nicht ausgewählten Spieler Berat Djimsiti (geboren in Zürich) und Vullnet Basha (geboren in Lausanne) die Zahl der Spieler auf dieser Liste noch vergrössern können.

Dieses Phänomen ist nicht etwa im Begriff zu verschwinden. In den Juniormannschaften in der Schweiz machen die albanischen Namen wohl 30 bis 40% der nachfolgenden Generationen aus. Die in Frankreich anwesenden Doppelbürger hatten sozusagen das Schweizer Leibchen an in den Teams der Junioren M17, M18, M19, manchmal bis zu M21, bevor sie zu Albanien wechselten – mehr sportlicher Interessen wegen denn aus Überlegungen im Zusammenhang mit der Identität. Die beiden extremsten Fälle sind jene aus dem Waadtland mit Frédéric Veselin, geboren in Renens, Captain der Schweizer M17 Weltmeister 2009 zusammen mit Ricardo Rodriguez und Haris Seferovic, und natürlich Taulant Xhaka, der, was stark mediatisiert wurde, am 11. Juni gegen seinen Bruder Granit Xhaka spielen wird.

Wenn Albanien zwei Mannschaften an der Euro hat, so hat auch die Schweiz zwei Mannschaften!

Angesichts dieser Situation wollte die Zeitung Le Temps Zynismus und Witzeleien etwas entgegensetzen. Wenn Albanien zwei Mannschaften an der Euro hat, dann hat auch die Schweiz zwei! Deshalb werden wir beide Länder gleichzeitig und mit gleichem Interesse behandeln. Zusammen mit der Informationsplattform Albinfo.ch werden wir uns allen Aspekten dieser historischen Teilnahme Albaniens und ihrer Folgen in der Schweiz widmen: Der Einfluss auf den Integrationsprozess, die Vorbildfunktionen von Shaqiri und Behrami, sowie der Druck, der manchmal auf den jungen Fussballern lasten kann, die Flinkheit und Lebhaftigkeit der Fans, mit welcher diese ihre Mannschaft begleiten. Das Porträt des ersten Albaners, der für die Schweiz spielte, die Beschreibung des typischen familiären Umfelds, die Herkunft und Bedeutung dieser inzwischen zwar bekannten, aber immer noch geheimnisvoll gebliebenen Vornamen: so manche Gelegenheiten, um besser kennen zu lernen, besser zu verstehen, und besser aufzunehmen.

Es wäre lächerlich zu behaupten, eine Nationalmannschaft würde (und noch mehr müsste) proportional die Bevölkerung eines Landes vertreten. Eine Fussballequipe kann zumindest die Verteilung der Armut und der sozialen Ungleichheit spiegeln. Die Zusammensetzung einer Mannschaft schafft eine Realität: Diese Kinder der Balkanstaaten sind mit uns und wollen leben wie wir. Heute zählt niemand die Zahl der italienischen oder spanischen Namen in der Schweizer Nati. Also hören wir besser auf mit dieser Zählung der Albaner, umso mehr als wir wissen, dass die nächste Welle schon bereit ist. Es gibt fünf Spieler in der Liste der ausgewählten 23 Schweizer Spieler, die in afrikanischen Ländern südlich der Sahara zur Welt kamen. Ein Rekord.

letemps5
Artikel erschienen in Le Temps, im Rahmen einer Zusammenarbeit mit Albinfo.ch

 


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