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Flüchtlingsnot und Dilemma: Geht es um den Schutz der Menschen oder der Grenzen?

Die Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen (EKM) führte am Donnerstag ihre Jahrestagung zum Thema "Schützen oder wegschauen?" durch

Das Thema Ausländer ist angesichts der vielen Menschen, die durch die jüngsten Krisen in der Welt zu Flüchtlingen wurden, in der schweizerischen Öffentlichkeit noch umstrittener geworden. Die Dilemmata rund um dieses Themas begleiteten auch die Jahrestagung der EKM. Sie trug das Motto “Schützen oder wegschauen”. Durch Vorträge von Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und dem Migrationsbereich sowie mit Podiumsdiskussionen wurden an der Tagung verschiedene Aspekte des weiten Themenfelds der Migration behandelt. Im Verlauf der Konferenz sprach auch Bundesrätin Simonetta Sommaruga, als Chefin des Justiz- und Polizeidepartements zuständig für das Ressort, in welches auch Probleme im Zusammenhang mit Migration fallen.

Sommaruga: die Flüchtlinge gerechter in Europa verteilen

Die Bundesrätin nutzte die Redetribüne, um den Standpunkt der Regierung zu den gegenwärtigen Entwicklungen im Migrationsbereich in der Schweiz und anderswo bekanntzugeben. Sie ging auch auf den jüngst ergangenen Entscheid des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg ein. Der Entscheid verbietet der Schweiz die bedingungslose Ausschaffung einer afghanischen Familie nach Italien. Doch der Entscheid lässt gleichzeitig Raum für eine Ausschaffung der Familie, vorausgesetzt Italien garantiere, die dafür notwendigen Bedingungen zu schaffen. “Wir sind daran, den Entscheid zu analysieren”, sagte Sommaruga. Doch die Bundesrätin kritisierte gewisse “Lücken”, wie sie sie nannte, im Dublin-Abkommen, und die Tatsache, dass einige Länder sich nicht an die Regeln halten würden. Jedoch betonte Sommaruga, im jetzigen Zeitpunkt gebe es keine Alternative zum Dublin-System. Dieses sei nicht perfekt, könne aber verbessert werden.

Sommaruga forderte eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge, die nicht die einen Staaten be- und die andern entlastete, wie es heute der Fall sei.

Kann das Dublin-System reformiert werden?

In einer Zeit, wo mehr Flüchtlinge als je zuvor in der jüngeren Geschichte nach Westeuropa kommen möchten, kann die Schweiz nicht eine Insel bleiben, isoliert von diesen Entwicklungen. Deshalb muss sie ihre Handlungen koordinieren, und sie koordiniert sie mit den anderen westlichen Ländern, die von diesen Entwicklungen betroffen sind, sagte Sommaruga. Danach sprach sie von der humanitären Tradition der Schweiz und darüber, dass diese Tradition fortgeführt werden müsse, solange es Menschen in Not gebe. Sommaruga warnte vor fremdenfeindlichen Tendenzen, die sich in der hiesigen Gesellschaft zeigten, und rief dazu auf, am 29. November gegen die Initiative Ecopop zu stimmen.

Das Thema Dublin beziehungsweise die (Un-)Möglichkeit es zu reformieren wurde auch von den andern Rednern angeschnitten. Etienne Piguet, Professor an der Universität Neuenburg und Vizepräsident der EKM, sprach gleichfalls darüber, dass keine gerechte Verteilung der Flüchtlinge stattfinde. Mit graphischen Darstellungen zeigte er, wie unproportional diese Verteilung ist. Während die Schweiz, Deutschland, Schweden und das eine oder andere Land im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl eine grosse Zahl Flüchtlinge aufgenommen haben, sind andere Länder Westeuropas weit davon entfernt.

Nur fünf Prozent der Flüchtlinge möchten nach Westeuropa 

Über die Migration als globales Problem sprach in seinem Referat Roger Zetter, emeritierter Professor von der Universität Oxford. Er anerkannte, dass das Problem mit den Flüchtlingen real ist, warnte jedoch vor der Panik, die die Westeuropäer ergreift, wenn von einem massiven Ansturm von Flüchtlingen auf Europa die Rede ist. Gemäss den von Zetter präsentierten Zahlen wollen nur fünf Prozent der Flüchtlinge in westeuropäischen Ländern Asyl suchen, während die anderen fünfundneunzig Prozent vorübergehend in ihren Nachbarländern oder in sicheren Zonen innerhalb ihrer Länder Schutz finden. Zetter plädierte für einen menschlicheren Ansatz im Umgang mit dem Flüchtlingsproblem. Er sprach auch über seine Erfahrungen, die er bei der Arbeit in verschiedenen Migrationsprojekten des UNHCR überall auf der Welt gewonnen hatte.

Ein interessanter Vortrag kam vom Präsidenten des Italienischen Flüchtlingsrats, Christopher Hein. Selbst aus dem Land, das  seiner geographischen Lage wegen als erstes von den ankommenden Flüchtlingen betroffen ist, schilderte Hein in berührender und umfassender Weise die Situation in Italien in Bezug auf diese Problematik. “Sollen die Grenzen oder die Menschen geschützt werden?”, war der Titel seines Vortrags, in welchem er heikle Fragen im Zusammenhang mit den Flüchtlingen, die Italien und Europa zur Zeit so stark beschäftigen, behandelte.

Grosses Dilemma: Sollen die Grenzen oder die Menschen geschützt werden?

Er sprach von der grossen Operation der italienischen Marine zur Rettung der Flüchtlinge im Mittelmeer, “Mare Nostrum”, die die italienische Regierung schlussendlich abbrach. Leider musste diese Operation abgebrochen werden und durch die Operation “Triton” auf europäischer Ebene ersetzt werden. Die erwähnte Operation kostete Italien viel und zuletzt wurde sie Opfer ihres Erfolgs. Es begann der Gedanke zu dominieren, je mehr Flüchtlinge gerettet würden, umso mehr  andere Flüchtlinge würden dazu verführt, sich mit schlecht tauglichen Ruderbooten aufs Meer hinaus zu wagen. Dadurch würde der Flüchtlingsstrom nicht ab, sondern zunehmen. Bei der Operation Triton der EU jedoch geht es in erster Linie um den Schutz der EU-Meeresgrenzen und weniger um jenen der Flüchtlinge. Dieser Ansatz bringt ein Dilemma: “Sollen die Grenzen oder die Menschen geschützt werden?”

Es fanden mehrere Podiumsgespräche statt, wo die Referenten und übrigen Teilnehmerinnen Fragen der Organisatoren und des Publikums beantworteten. In den Pausen trat die bekannte, in der Schweiz wohnhafte albanische Jazzsängerin Elina Duni auf. Sie interpretierte eine  Auswahl von Liedern, hauptsächlich albanischer Tradition.