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Wenn die hausgemachten Probleme der Migration zugeschrieben werden

Laut Bundesrätin Sommaruga sind die meisten aktuellen Probleme der Schweiz hausgemacht, mit andern Worten von den Schweizern selbst oder durch das (Nicht-)Funktionieren des Systems verursacht

Ist die Migration Schuld an gewissen Problemen, mit welchen die Schweiz in den letzten Jahren konfrontiert ist, wie Überbevölkerung, Verkehrsüberlastung, steigende Wohnungsmieten etc., oder sind es die Schweizer selbst? So lassen sich vereinfacht die Fragen zusammenfassen, die an der eintägigen Konferenz der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen (EKM) am Dienstag in Bern gestellt wurden.

Der Antworten auf diese Fragen waren viele, und sie kamen von sehr kompetenten Personen, einheimischen und internationalen, von Politikerinnen und Bevölkerungswissenschaftlern. Die eidgenössische Justizministerin Simonetta Sommaruga hielt an der Konferenz ein Referat, in welchem sie über die Notwendigkeit eines realistischen Zugangs zu den Problemen mit der Migration sprach.

“Die Vielfalt der Schweiz ist seit vielen Jahren ein Vorteil der Schweiz. Die Migration ist Teil dieser Vielfalt und diesem Sinn auch Teil der Schweiz.”

Die Schweiz befindet sich wirtschaftlich in einer viel besseren Lage als ihre Nachbarn und hat nur eine geringe Arbeitslosigkeit. Dieses wirtschaftliche und allgemeine Wohlbefinden verdankt sie in grossem Mass den Ausländerinnen und Ausländern, die hier arbeiten.

Doch nebst den Vorteilen, die überwiegen, dürfen wir die realen Probleme, die durch die Migration verursacht werden,  nicht verschweigen, sagte Sommaruga unter anderem.

Sie kritisierte jene politischen Kreise, die Panik verbreiten mit dem Bild einer “Invasion” von Ausländern und der Gefahr von Überbevölkerung, denn die Mehrheit der aktuellen Probleme in der Schweiz sind hausgemacht, mit andern Worten, von den Schweizern selbst oder durch das (Nicht-)Funktionieren des Systems verursacht.

Als Indiz in diesem Zusammenhang erwähnte sie die Wohnfläche. Es stimmt nicht, dass die Ausländerinnen und Ausländer “uns die Wohnungen wegnehmen” oder “sie verteuern”, sagte Sommaruga.

Es ist unser steigendes Bedürfnis nach grösserer Wohnfläche, das solche Folgen zeitigt. Während vor rund vierzig Jahren dreissig Quadratmeter optimal für eine Person waren, braucht es heute fünfzig Quadratmeter, führte sie aus.
 
Wo wäre die Schweiz ohne eingewanderte Bevölkerung?

David Coleman, Professor für Bevölkerungswissenschaften an der Universität von Oxford, erklärte, wie sich in Europa gegenwärtig demographische Reife und Alterung verbreiten.

Die meisten Bedenken hinsichtlich Alterung der Bevölkerung in Europa träfen zwar zu, bemerkt Coleman, oft gehe jedoch vergessen, dass die durchschnittliche Lebensdauer und die Lebensqualität im Alter zunähmen, gerade in Europa und allgemein im Westen.

Er erwähnte auch Trends in einigen Ländern, vor allem in Frankreich und den skandinavischen Staaten, wo eine entsprechende Sozialpolitik zu einem Anstieg der Geburtenraten führte, was der Panik über “den Tod Europas” zuwiderläuft.

Drei weitere Demografen äusserten sich in ihren Beiträgen ebenfalls zum Kernthema, der Migration und ihrem vielseitigen Einfluss in der Schweiz.

So stellte Rainer Münz, Bevölkerungswissenschaftler in der Forschungsabteilung der Erste Group Bank in Wien, die Wirkung der Migration in der Schweiz dar, aufgefächert nach Jahren und Regionen.

Er zeigte auf, dass die Schweiz in den letzten hundert Jahren mit Ausnahme weniger kurzer Perioden ein Einwanderungsland von grosser Anziehungskraft war.

Die einzigen Zeiten, wo Migranten die Schweiz verliessen oder es nicht auf sie abgesehen hatten, waren das Jahr 1918, als in der Schweiz eine schwere Grippeepidemie wütete, und das Jahr 1973, während der Ölkrise.

Wo wäre die Schweiz ohne Ausländer, wie lebte es sich in diesem Land, wo in zahlreichen Sektoren Migranten und Migrantinnen rund die Hälfte der Erwerbstätigen ausmachen? Diese Fragestellung beleuchtete vor dem Konferenzpublikum in einem spannenden Referat der Professor für Bevölkerungswissenschaften von der Universität Genf, Philipp Wanner.

Er machte auf die Fakten aufmerksam, die zeigen, wie das Leben in der Schweiz von Ausländerinnen und Migranten abhängt. Er präsentierte auch Szenarien, wie sich das Leben in der Schweiz ohne ausländische Bevölkerung entwickeln würde. Die Zahl der Beschäftigten wäre gemäss diesen Projektionen viel kleiner und viel niedriger wäre folglich auch der Wohlstand in der Schweiz.

Er illustrierte dies mit augenfälligen Daten: Die Hälfte des Personals in der Hotellerie, Gastronomie, auf dem Bau und im Gesundheitswesen sind Migranten. Würden sie fehlen, bekäme das die wohlstandsgewohnte  Schweizer Gesellschaft sehr stark zu spüren, hielt Wanner fest.

Martin Schuler von der ETH Lausanne referierte über die Raumplanung in der Schweiz, über die Wechselwirkungen zwischen dem Faktor Migration und andern Faktoren. Hinsichtlich dieser Wechselwirkung kam ein weiterer Vortragender, Christian Ferres vom Büro für Planung und Kommunikation Metro, zum Schluss, dass “zwei Drittel der (negativen) Veränderungen der städtischen Dichte intern und nur ein Drittel durch die Migration entstanden”.
 
“Zwei Drittel autochthone Probleme, ein Drittel importierte”

Von einem ähnlichen Verhältnis von “zwei Dritteln  autochthonen und einem Drittel importierten bzw. durch die Migration verursachten Problemen” war auch in den andern Beiträgen der Konferenz die Rede.

Packend war auch das Referat des Demografen und ehemaligen Leiters des Französischen Instituts für Bevölkerungswissenschaften, François Héran.

Er stellte in seinem essayartigen Beitrag Beispiele der im Lauf der Geschichte veränderten demografischen Blickwinkel und Konzepte einander gegenüber und brachte Licht in die komplexe  Materie dieses Bereichs. Héran hielt sich insbesondere bei der malthusianischen Theorie und den Nachfolgern von Malthus auf. Letzterer ist für seine nicht sehr humane Haltung in Fragen demographischer Entwicklungen bekannt.

Bekanntlich vertrat Malthus die Idee von der “überzähligen Bevölkerung”, bzw. den Armen, die “eliminiert” werden sollten, damit der andere, auserwählte Teil, normal leben kann. Und dies, weil gemäss ihm die natürlichen Ressourcen nicht für eine grosse Zahl Erdbewohner und Bewohnerinnen genügen.

Diese Theorie verband der Pariser Professor sodann mit aktuellen Tendenzen, die die Migration als “überflüssiges Element” betrachten. In diesem Sinn gehen laut Héran und  andern, die  an der Konferenz das Wort ergriffen hatten, auch Initiativen wie Ecopop, über welche nächstes Jahr in der Schweiz abgestimmt werden soll, in eine ähnliche, wenn auch moderatere Richtung.

Nebst der Vortragsreihe beteiligten sich die Forscherinnen und andern Referenten im Lauf des Tages auch an drei Podiumsgesprächen, die unter anderem von Walter Leimgruber, dem Präsidenten der EKM, und der Vizedirektorin des Bundesamtes für Migration Barbara Büschi, moderiert wurden.

Blerim Shabani