Meinungen

Aufschrei einer Kosovo-Schweizerin: Es reicht!

Kaltërina Latifi, Autorin bei «Das Magazin» über das Tötungsdelikt an einer Ökonomin kosovarischer Herkunft. Die Autorin rechnet ab mit Frauenhass, Sexismus und Gewalt in kosovo-albanischen Kreisen

Wir Kosovo-Albaner, ganz gleich wo wir auf dieser Welt leben, müssen endlich damit beginnen, Klartext zu reden. Wir müssen mit unserer Scheinheiligkeit aufhören: Auf der einen Seite unsere angeblich gelungene Integration zur Schau stellen, während wir in «unseren Kreisen», wenn wir uns unter unseresgleichen befinden, althergebrachte, menschenfeindliche Strukturen fördern – oder zumindest dulden, indem wir dazu, der Scham wegen, lieber schweigen. Strukturen, die beide Geschlechter zuletzt ins Elend stürzen.

Vielleicht ahnt der eine oder andere Leser, was mich hier umtreibt. Eine promovierte, an der Universität St. Gallen lehrende Ökonomin, die eine steile Karriere vorgelegt hat, seit sie mit neun Jahren Anfang der Neunziger aus dem Kosovo in die Schweiz emigrierte – ist tot. Ihr albano-mazedonischer Ehemann befindet sich in Untersuchungshaft, es besteht der dringende Verdacht auf vorsätzliche Tötung.

Nun gilt die Unschuldsvermutung, und die Ermittlungen werden zeigen, was sich wirklich zugetragen hat. Doch wenn sich bewahrheitet, was sich hier abzuzeichnen scheint, ist die Ökonomin Opfer eines Femizids geworden.

Abgesehen von der Abscheulichkeit der Tat hat dieser Fall auch deswegen einen wunden Punkt in mir getroffen, weil ich, gebürtige Kosovarin, von viel zu vielen kosovo-albanischen Frauen erzählen könnte, die nach aussen hin ein unscheinbares, normales Leben führen, Karriere machen oder auch nicht, während sie zu Hause von ihren Ehepartnern unterdrückt, psychisch malträtiert und geschlagen werden.

Schicksale, die Bände füllen würden, erzählte man sie. Schicksale, über die der engere kosovo-albanische Umkreis lieber schweigt, weil, verständlich, das Schamgefühl überwiegt.

Wenn wir aber wollen, dass sich etwas ändert, dann müssen wir damit beginnen, diese Tabuisierung gewaltfördernder Gesellschaftsmuster aufzubrechen.

Dass frühere Generationen erst mühsam lernen mussten, sich aus den Fängen traditionalistischer Strukturen zu befreien – lassen wir dies einmal gelten. Aber wann hört dieses «Früher» auf? Wie lange wollen wir noch im «Früher» weiterleben? Was ist mit dem Hier und Jetzt?

Wer meint, die heutige kosovo-albanische Kultur sei quasi frei von traditionalistischen Wertvorstellungen und überkommenen Geschlechterrollen, der irrt. Zu viele meinen noch, dass eine Frau dem Mann zu gehorchen hat, ja ihm gewissermassen unterstellt ist.

An der Bildung allein liegt es nicht, wie nun auch der Fall der Ökonomin zu zeigen scheint. Die männliche Unterdrückung der Frau und die aus meiner Sicht ebenso verwerfliche Hinnahme dieser Unterjochung durch die Frau (die dann nicht selten auf die Töchter übertragen wird) sind in allen Bildungsschichten zu beobachten.

Was also tun? Reden! Erzählen! Und auf diese Weise dem gesichtslosen Ungeheuer ein Gesicht geben. Nur so lässt sich der Teufelskreis aufbrechen, indem wir das, was im «inneren Kreis» geschieht, nach aussen tragen.

Denn die Wahrheit ist, um ein Wort Ingeborg Bachmanns zu gebrauchen, dem Menschen zumutbar.

Kaltërina Latifi ist Essayistin und Literaturwissenschaftlerin.

Übernommen aus der aktuellen Ausgabe von «Das Magazin», der Samstagsbeilage des «Tages-Anzeigers».